Geleitwort von
Prof. Dr. Walter Dürr (Freie Universität Berlin)

 
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Mit dieser Arbeit betritt der Verfasser wissenschaftliches Neuland. Wie ist das zu verstehen?

Erstmals wird hier der Versuch unternommen, Phänomene des organisationalen Wandels im Rahmen einer umfassenden Theorie von sehr hohem Allgemeinheitsgrad zu beschreiben und zu erklären, einer Theorie also, die nicht für das besondere Phänomen des Wandels von bzw. in Organisationen entwickelt und erprobt wurde, wohl aber wegen ihres Allgemeinheitsgrades auch hier gilt.

Die Ausgangsüberlegungen sind geprägt von der Vermutung, die zuerst von Hermann Haken und fast gleichzeitig von Manfred Eigen geäußert wurde: dass für Phänomene der Herausbildung stabiler Gestalten und ihre Selbstabilisierung in der Zeit stets dieselben Gesetze gelten, auch wenn sie sich in den wahrgenommenen Phänomenen jeweils unterschiedlich auswirken. Carl Friedrich von Weizsäcker hat diesen Vorschlag als Postulat formuliert: "Jedes stabile Ergebnis einer Fulguration muss eine ihm eigene Kraft der Selbstabilisierung haben, eine Korrespondenz seiner inneren Struktur zu den äußeren Bedingungen seiner Existenz".

Überall in der Evolution, in der unbelebten und belebten Natur wie in der Herausbildung kultureller, sozialer und ökonomischer Gestalten, so besagt das Postulat, lässt sich das Entstehen, der zeitliche Bestand und das Vergehen solcher Gestalten mit demselben Gesetzesschema erklären. Dabei bedeutet der in Anlehnung an Konrad Lorenz verwendete Begriff "Fulguration" den plötzlichen Zusammenschluss vorher getrennt existierender Teile zu einer neuen umfassenden Gestalt.

Am Beispiel des Laser-Phänomens hat Hermann Haken eindrucksvoll geschildert, dass die Herausbildung eines oder mehrerer Ordnungsparameter aus einem Wettbewerb von Möglichkeiten überall erfolgt, wo stabile Gestalten existieren. In diesem Sinne bezeichnet Haken das gesamte Forschungsgebiet, in dem gleichsam "von selbst" stabile Gestalten entstehen, als Synergetik, als "Lehre vom Zusammenwirken".

Was wir von solchen Gestalten bzw. Organisationsformen wissen können, lässt sich mit dem Grundbegriff der Information und einer umfassenden Informationstheorie bezeichnen: Handlungsweisen bzw. Praktiken, die in einer Organisation wahrgenommen werden (Pragmatik); der Sinn bzw. die Funktion, die wir den Praktiken entnehmen können im Hinblick auf ihren Beitrag zur Aufrechterhaltung der Kraft der Selbstabilisierung (Semantik); die Struktur, die der Organisation den formalen Halt gibt (Syntaktik).

Die für die Erklärung von organisationalen Wandel erforderliche Erklärungskraft gewinnt die Informationstheorie, wenn sie "synergetisch" im Sinne von Hermann Haken verstanden wird. Der mathematische Formalismus der Theorie erklärt die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Herausbildung und Änderung von Ordnungsparametern in Korrespondenz zu den Kontrollparametern. Aufgabe der Einzelwissenschaften ist es zu zeigen, welche Bedeutung diese Gesetzmäßigkeiten für die von ihnen wahrgenommenen Phänomene und für die bisher verwendeten Begriffe und Partialmodelle haben.

Als Theorie für die Erklärung der für eine Organisation charakteristischen, d.h. empirisch wahrgenommenen, Phänomene der Gestaltentstehung, ihrer Selbstabilisierung, des Gestaltwandels und von Krisenphänomenen gewinnt die synergetische Informationstheorie als umfassende Theorie eine Bedeutung wie "ein neues mächtiges Sinnesorgan" (Popper).

Sie ist selbst ein Beispiel dafür, dass Gestaltentstehung und Gestaltwandel in der Evolution sich nicht als stetige Entwicklung vollziehen, sondern im Wandel stabiler Phasen und von Krisenphasen, von Th. S. Kuhn beschrieben als Wechsel von Phasen normaler Wissenschaft und von wissenschaftlichen Krisen; dieser Wechsel betrifft sowohl die Natur- als auch die Geistes- und Sozialwissenschaften.

Die neue Sicht der Phänomene organisationalen Wandels und ihre Erklärung mit den Denkmöglichkeiten der synergetischen Theorie der Selbstorganisation und mit dem umfassenden Informationsbegriff ist selbst noch keine "normale Wissenschaft" im Sinne Kuhns, sondern ein Beispiel dafür, wie konkrete wissenschaftliche Forschung in einer als Krise wahrgenommenen Situation in den Sozialwissenschaften, in der Betriebswirtschaftslehre, speziell in der Organisations- und Managementlehre möglich ist, von der die Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften gleichermaßen betroffen sind. Ob diese Krise die Möglichkeit zu einem künftigen umfassenden grenzüberschreitenden wissenschaftlichen Paradigma eröffnet, bleibt offen. Die Verständigungsmöglichkeiten zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen werden sich zweifellos verbessern; sie werden, wie das vorliegende Buch zeigt, bereits erfolgreich genutzt.

Es wird deutlich, wie sich die wissenschaftlichen Fragestellungen in den Sozialwissenschaften allgemein, in der betriebswirtschaftlichen Organisations- und Managementlehre speziell, durch die Denkmöglichkeiten der synergetischen Theorie der Selbstorganisation, verändern und erweitern.

Hervorzuheben ist der Kerngedanke, dass im Wechsel von stabilen und instabilen Phasen organisatorische Konfigurationen entstehen und vergehen, die nicht strategisch optimiert, geregelt und gesteuert werden können, sondern deren Veränderung nur indirekt über die Beeinflussung der komplexen inneren Dynamik (Verhalten, Funktion, Struktur) möglich ist.

Mit dieser Annahme wird der Dualismus von Materie - ausgedehnter Substanz - und Bewusstsein - denkender Substanz - infrage gestellt. Die Phänomene, die im Wandel von Organisationen wahrgenommen werden können und theoretisch als zugehörig zu den Konfigurationen von Stabilitäts- und Instabilitätsphasen erklärt werden können, betreffen stets zugleich die organisationalen Strukturen, wie auch den Sinn, der ihnen vom Management und von allen Beschäftigten beigemessen wird und der sich in den individuellen und kollektiven Handlungsweisen manifestiert. Insofern bilden Strukturentwicklung, Funktionsentwicklung und Personalentwicklung eine Einheit.

Prof. Dr. Walter Dürr, Juni 2000

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Kontakt: n_niemeier@web.de letzte Änderung: 30.09.2001