Geleitwort von
Univ.-Prof. Dr. Michael Stitzel (Freie Universität Berlin)

 
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Was ist eigentlich Synergetik? Und was soll sie in der Betriebswirtschaftslehre? Das mag sich der betriebswirtschaftlich interessierte Leser fragen, wenn er die hier vorgelegte Dissertation von Norbert Niemeier in die Hand nimmt. Mit Synergie, einem ihm vertrauten Begriff, hat Synergetik offenkundig nichts zu tun, wohl aber mit Laserstrahlen, die bislang in der Betriebswirtschaftslehre aus naheliegenden Gründen nicht thematisiert wurden. Des Rätsels Lösung: Die Synergetik ist eine Theorie, die die Bildung von Laserstrahlen zum Thema hat, und Norbert Niemeiers Basishypothese lautet, daß genau diese Theorie sich dazu eignet, die Dynamik von Organisationen, also das wichtige betriebswirtschaftliche Phänomen des organisationalen Wandels, zu erklären. Überrascht, daß eine naturwissenschaftliche Theorie in der Betriebswirtschaftslehre genutzt wird? Auf den ersten Blick vielleicht schon, bei längerem Nachdenken über den Stand der betriebswirtschaftlichen Theorieerklärung aber dann wohl doch nicht.

Es ist nicht zu übersehen, daß sich die eher junge Wissenschaft Betriebswirtschaftslehre immer noch und ohne abschließende Erfolge darum bemüht, ein forschungsleitendes Paradigma zu finden, das sich dazu eignet, ihr Erkenntnisobjekt "Unternehmen" wissenschaftlich handhabbar zu machen. So wetteifern derzeit vor allem ökonomische Ansätze, speziell die Institutionenökonomie, und sozialwissenschaftlich geprägte Ansätze, vor allen die verhaltensorientierte Managementlehre, in fruchtbarer Form miteinander - was sich letztendlich durchsetzen wird, ist noch nicht abzuschätzen.

Aber warum nicht auch ganz andere Wege gehen? Ertragsreich zu sein für die Entwicklung der Disziplin versprechen insbesondere Formal- und Metatheorien, die im naturwissenschaftlichen Bereich ihre Erklärungskraft unter Beweis gestellt haben: seit langem schon die Systemtheorie, neuerdings die Chaos- und die Evolutionstheorie (vgl. dazu die im Institut von Götz Klink verfaßte Arbeit: Genese einer ökologieorientierten Unternehmensführung: ein evolutionstheoretisches Modell). Norbert Niemeier führt mit der Synergetik eine weitere Theorie dieser Theoriegruppe in die Betriebswirtschaftslehre ein, weil ihre Grundannahmen nicht nur für das naturwissenschaftliche Phänomen Laser Aussagekraft aufweisen (das ohne Zweifel), sondern weil es zugleich auch deutliche Indizien dafür gibt, daß auf dem Weg der Übertragung dieser Theorie betriebswirtschaftliche Tatbestände erhellt und besser verstehbar gemacht werden können. Zentraler Aspekt der Synergetik ist die Generierung theoretisch und empirisch gehaltvoller Aussagen zur Selbstorganisation komplexer sozialer Systeme. Damit ist ein Fragenkomplex angesprochen, der angesichts des sich vermindernden Glaubens an die unbegrenzte Steuerbarkeit von Unternehmen immer mehr an Bedeutung gewinnt.

Norbert Niemeiers Argumentationsführung der Anwendbarkeit und Nützlichkeit der Synergetik für betriebswirtschaftliche Fragestellungen ist auf schlüssige Weise stufenförmig mit zunehmender Konkretisierung aufgebaut. Im ersten Teil wird die Theorie der Synergetik in ihren Basisaussagen und Verbindungen zu verwandten naturwissenschaftlichen Theorien dargestellt. Auch ohne ihren mathematischen Unterbau, auf dessen Darstellung der Autor vernünftigerweise verzichtet, ist die Synergetik für den "normalen" Sozialwissenschaftler ein schwieriger Brocken. Norbert Niemeier bemüht sich erfolgreich, die Theorie so aufzubereiten, daß sich auch der Nicht-Fachmann in ihr zurechtfinden kann, ohne freilich in populärwissenschaftliche Darstellungsformen abzugleiten.

Der Übergang zur zweiten Stufe, die Übertragung der genuinen Lasertheorie auf die vom Laser doch prima vista deutlich abweichenden sozialen Systembedingungen, stellt einen sehr schweren Schritt dar. Damit er gelingt, diskutiert der Autor ausführlich und selbstbewußt (und mit einem extrem ausdifferenzierten Literaturapparat) die Problematik des Theorietransfers. Der Weg, die Übertragung als Spezifizierung eines allgemeinen Theorieprinzips zu begreifen, wird ausführlich legitimiert; er erweist sich als gang- und fruchtbar: Zusätzlich zum rein formalen Isomorphismus, der als Legitimation allein nicht ausreichen würde, werden die spezifischen Bedingungen identifiziert und erläutert, die innerhalb sozialer System synergetische Gegebenheiten darstellen.

Von großer Bedeutung für die Arbeit und insgesamt sehr innovativ sind die Kapitel 3.3 - 3.5, in denen es konkret um die theorieorientierte Analyse der Selbstorganisation sozialer Systeme geht. Auffällig ist dabei die thematische Breite der Darstellung (z.B. S. 145 ff.), die Kommunikation, Sprache, Kultur etc. umfaßt (überschrieben mit "Spezifische menschliche Bedingungen...!"). Konzentriert geschrieben ist die Darstellung und Analyse des Zentralelements der Synergetik, das Entstehen (und ggf. Scheitern bzw. Sich-Verändern) von stabilen Gestalten bzw. Ordnungen, und damit der Aspekt, der die Eignung des Synergetik-Ansatzes für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit zielgerichteten produktiven sozialen Systemen, hier speziell Unternehmen, begründet.

Die dritte Stufe der Übertragung der Synergetik, ihre Eingrenzung auf betriebswirtschaftliche Systeme, ist nach der sorgfältigen Basislegung beim Übergang zu den sozialen Systemen weniger kritisch als die Übertragung der Theorie in den sozialwissenschaftlichen Bereich ganz generell. Norbert Niemeier beschreibt die Phänomene der Veränderung von und in Organisationen und bildet dazu die zentralen Aspekte dieser Veränderungen - Entstehen von Ordnung, Auftreten von Stabilitäts- und Instabilitätsphasen sowie deren Aufeinanderfolgen - auf die Theorie der Synergetik ab. Dieser Teil ist der anspruchsvollste und innovativste der Arbeit; der Beleg gelingt, daß die Synergetik den Theoriefundus der Betriebswirtschaftslehre bereichern kann.

Die letzte Konkretisierung im Rahmen der betriebswirtschaftlichen Nutzung der Synergetik-Theorie bezieht der Autor auf eine relevante unternehmerische Querschnittfunktion, die Ökologieorientierung. Diese Wahl ist deshalb zu begrüßen, weil die wissenschaftlichen Überlegungen zur Entwicklung einer umweltgerechten Unternehmenskonzeption noch immer relativ theorielos erfolgen: sollte sich herausstellen, daß die Synergetik gerade dafür eine geeignete theoretische Basis darstellt, wäre hier eine tiefe und fortschrittshemmende Lücke geschlossen. Das Kapitel bringt eine Reihe innovativer Ansatzpunkte zum Umweltmanagement, so z.B. zu den ökologischen Unternehmensgestalten sowie zur Einbindung der Umweltorientierung der Unternehmen in übergeordnete Supersysteme.

Norbert Niemeiers Werk ist keine leichte Feierabendlektüre; sie verlangt vom Leser, der sich auf sie einläßt, konzentriertes Mitarbeiten, die Fähigkeit, sich in ganz unterschiedlichen Wissenschafts- und Lebensbereichen zurechtzufinden, sie verlangt einen langen Atem und die Bereitschaft, in umfassenden und ganzheitlichen Strukturen zu denken. Der Lohn der Mühen freilich ist groß: Der Blickwinkel wird erweitert, bislang im Fach kaum thematisierte Theorien werden nutzbar, die Lust am Neuen wird in vielfältiger Weise befriedigt. Als Betreuer und Wegbegleiter der Dissertation wünsche ich dem Leser, daß er bei der Lektüre dieses Buches all dieses erfährt.

Prof. Dr. Michael Stitzel, Juni 2000

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Kontakt: n_niemeier@web.de letzte Änderung: 30.09.2001